100 Jahre Sozialdemokratie in Reichenberg

ein Artikel von Prof. Dr. Klaus Schönhoven, aktualisiert von Dr. Ernst Conzelmann und Gerhard Hartmann

Fahne Reichenberg

Die Gründerzeit und die Weimarer Repuplik

Am 16. März 1910 trafen sich im „Schwarzen Adler“ in Reichenberg 17 Arbeiter und gründeten den Ortsverein der SPD. Mit Rat und Tat zur Seite stand ihnen dabei der Paten-Ortsverein aus Heidingsfeld.

Was uns heute ganz normal vorkommt, war damals sehr mutig. Reichen­berg, mit seinen damals 680 Einwohnern, war im wesentlichen landwirt­schaftlich geprägt, die Arbeiter waren eine kleine Minderheit. In Reichen­berg gab es für sie auch kaum Beschäftigung, sie mussten sich Ihren Lebens­unterhalt als Bauarbeiter, Steinhauer oder Tüncher in Heidingsfeld, Würz­burg, Kirchheim oder Kleinrinder­feld verdienen. Entsprechend schwierig war die Gründung einer Arbeiterpartei. Auch war Deutschland damals noch ein Kaiserreich und eine demokratische Gesinnung, zumal eine sozialdemo­kratische, galt geradezu als staatsgefährdend.

Trotzdem konnte innerhalb weniger Jahre ein stabiler SPD-Ortsverein aufge­baut werden. Der monatliche Mitgliedsbeitrag betrug 30 Pfennig, das war etwa ein Stundenlohn, den man für die gemeinsame Sache opferte. Zwei Jahre nach der Gründung waren es schon 40 Mitglieder, von ihnen zogen bei den Kommunal­wahlen 1912 drei - Johann Ott, Andreas Jordan und Bernd Rosnecker - in den Reichenberger Gemeinderat ein. Die Sozialdemo­kraten waren schon eine wichtige politische Kraft in Reichen­berg geworden.

Im Herbst 1918 wurde die Monarchie gestürzt und die Weimarer Republik gegründet, im November 1919 wurde auch in Bayern das Königshaus abgesetzt und von dem Sozialdemokraten (!) Kurt Eisner der „Freistaat Bayern“ ausge­rufen.Die Reichenberger Sozialdemokraten setzten ihre Arbeit unermüdlich fort. Unter dem Vorsitz von Johann Weppert, der von 1920 bis 1933 und dann wieder von 1945 bis 1948 an der Spitze des Ortsvereins stand, entwickelte sich ein reges Parteileben, das weit über die politische Alltagsarbeit hinausging. 1912 wurde der „Arbeiter-Turn‑ und Sportverein Eintracht Reichenberg“ gegründet (der heutige TSV Reichen­berg), kurz darauf der Arbeitergesang­verein „Vorwärts Reichenberg“. Um die Wohnungsnot der kleinen Leute zu lindern, gründete man 1920 die Reichen­berger Baugenos­senschaft. An sie erinnert noch heute der „Genossen­schafts­weg“. In der Zeit der Weimarer Republik waren solch vielfältige Aktivitäten typisch für die Arbeiterbewegung, die sich nicht nur als politische, sondern auch als soziale und kulturelle Befreiungs­bewegung verstand.

Der Zustrom an Mitgliedern hielt in der Nachkriegszeit an, mit 63 Mitglie­dern erreichte die Reichenberger SPD 1922 ihren höchsten Stand. In den folgenden Jahren aber hinterließen Inflation und Wirtschaftskrise ihre Spuren im Reichen­berger Parteileben, die Mitgliederzahl schrumpfte 1925 auf nur noch 24. Aller­dings lag das, wie einem Geschäftsbericht zu entnehmen ist, auch an „persön­lichen Reibereien“, die, wie der Chronist meldete „wie ein schleichendes Gift“ gewirkt hatten.

Die Zeit der Nazi-Herrschaft

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten brach 1933 auch für die Reichen­berger Sozialdemokraten eine Zeit der Verfolgung und Unter­drückung an. Die vier SPD-Gemeinderäte Johann Ott, Karl Köller, Richard Lösch und Johann Weppert wurden gezwungen, ihre Mandate nieder­zulegen, zwei Mitglieder wurden von den braunen Machthabern inhaftiert.

Selbst die Fahne des SPD-Ortsvereins musste eine abenteuerliche Flucht antreten. Zunächst hatte sie der Vorsitzende, Johann Weppert, unter dem Wäschestapel seiner Frau versteckt, so dass die Nazis sie nicht fanden. Weil das aber zu unsicher war, wurde sie zunächst nach Höchberg, später sogar bis nach Regensburg gebracht, von wo sie 1945 zurückkehrte. So ganz genau lässt sich die Geschichte aber wohl nicht mehr emitteln.

Doch die Nachstellungen der NSDAP konnten den Zusammenhalt der Reichen­berger rSozialdemokraten nicht erschüttern. Die solidarische Gemeinschaft überdauerte die zwölf Jahre der braunen Herrschaft. Bereits im Jahr 1945 begann der SPD-Ortsverein Reichenberg wieder mit seiner Organisationsarbeit.

Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Reichenberg zu einer Bastion der Sozialdemokratie im Raum Würzburg. Vier Kreisräte kamen aus den Reihen des Ortsvereins (Georg Weppert, Adolf Götzelmann, Walter Dosch und Gerhard Hartmann). Von 1952 bis 1972 stellte man den zweiten Bürgermeister, 1972 wurde mit Bernd Wiesler erstmals ein Sozial­demokrat zum Bürgermeister in Reichenberg gewählt. Seine Amtszeit bis 1978 war geprägt vom Bau der Wolffs­keel-Halle und von der Gemeinde­gebietsreform. Die Einheitsgemeinde Markt Reichenberg wurde mit dem Abschluss des Eingemeindungsvertrages der ehemals selbständigen Gemeinden Alberts­hausen, Fuchsstadt, Lindflur und Uengershausen auf den Weg gebracht.

Von 1978 bis 1996 stand Walter Dosch an der Spitze der Gemeinde, seit dem 1. Januar 1978 nun „Markt Reichenberg“. Eines der wichtigsten Anliegen von Walter Dosch war es, das von den Vereinen getragene kulturelle Eigenleben in den Ortsteilen zu erhalten und gezielt zu fördern. Heute, 32 Jahre nach der Gründung des Marktes Reichenberg können wir Sozialdemokraten mit Stolz auf die gelungene politsche Lebensleistung von Walter Dosch in allen 5 Ortsteilen blicken. Das kulturelle Eigenleben konnte erhalten werden, es ist durchweg vielfältig intakt.

Zwar wurde diese erfolgreiche Tradition 1996 unterbrochen, die Sozial­demo­kraten mussten bei den Kommunalwahlen empfindliche Verluste hinnehmen und das Amt des Bürgermeisters wird seither vom politischen Konkurrenten besetzt. Die Sozialdemokratie ist aber nach wie vor eine wichtige politische Kraft in der Gemeinde, sie ist heute so notwendig wie eh und je.

Im Jahre 1994 vereinte sich der SPD-Ortsverein Reichenberg mit dem 1966 gegründeten Ortsverein Uengershausen zum SPD-Ortsverein Markt Reichen­berg. Zwar ist die Mitgliederzahl in den letzten Jahren etwas zurückgegangen, aber der Ortsverein ist mit derzeit 65 Mitgliedern immer noch einer der größten im Landkreis.

Von 1998 bis 2003 gehörte mit Gerhard Hartmann erstmals ein Mitglied der Reichenberger SPD dem Bayerischen Landtag an.

Betrachtet man alte Ortsansichten der Gemeinde, so wird einem bewusst, wie sehr sie sich in dieser Zeit verändert hat. Manches ist aus dem Orts­bild verschwunden und lebt nur noch in der Erinnerung älterer Mitbürger fort. Neues ist hinzugekommen. Der Charakter der Gemeinde wird nicht mehr so sehr von der Landwirtschaft geprägt, Reichenberg ist zu einem stadtnahen Wohnort für viele geworden, die in Würzburg arbeiten. Trotz­dem sind nicht nur Albertshausen, Fuchsstadt, Lindflur und Uengers­hausen, sondern auch Rei­chenberg selbst im Kern dörflich geblie­ben. Wohnsilos und Hochhäuser wie in anderen Stadtrand­gemeinden gibt es hier nicht. Das Mit­einander spielt noch immer eine sehr wichtige Rolle im Gemeindeleben, im Ort Reichenberg und erst recht in den anderen Gemeinde­teilen. Dass dies so bleibt, ist nach wie vor eine wichtige Zielset­zung sozialdemokra­tischer Kommunal­politik im Markt Reichenberg.